Der erfolgreiche Berliner Volksentscheid über die Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen hat den Sozialisierungsartikel 15 im deutschen Grundgesetz (GG) ins Zentrum der Debatte gerückt. Im neuen gif Policy Paper kommen die Autoren zum Schluss: Die geplante Sozialisierung in Berlin ist in zweifacher Hinsicht verfassungswidrig.
Die Berliner Bürger hatten sich in einem Volksentscheid im September 2021 mehrheitlich für eine Vergesellschaftung privatwirtschaftlicher Wohnungsunternehmen mit über 3.000 Wohnungen ausgesprochen. Bis Ende März soll vom Senat ein Expertengremium eingesetzt werden und beraten, wie die Vergesellschaftung umgesetzt werden kann. In der gesellschaftspolitischen Enteignungsdebatte ist insbesondere der Sozialisierungsartikel 15 GG, der in den 70 Jahren seines Bestehens noch nie angewendet wurde, zwischen die Fronten geraten.
Breites Meinungsspektrum
Das Meinungsspektrum zur Auslegung der Bestimmung, das im Zuge der Debatte vertreten wird, könnte breiter kaum sein. Teilweise wird die Norm sehr weitreichend interpretiert und angenommen, dass letztlich jede Vergesellschaftung größerer Unternehmensbestände rechtlich zulässig sei, sofern nur eine Entschädigung erfolgt.
Am anderen Ende des Meinungsspektrums wird eine äußerst enge Interpretation der Norm favorisiert. Sie verlangt eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle wie bei anderen Enteignungen und ebnet so etwaige Besonderheiten des Sozialisierungsartikels ein. Die Bestimmung wird also letztlich überflüssig.
Keine marktdominanten Unternehmen in Berlin
In ihrer Studie arbeiten die Autoren Prof. Dr. Jürgen Kühling und Moritz Litterst neben weiteren rechtpolitischen Aspekten die Genese des Artikels 15 und die damit verknüpften Ziele heraus. Ihr Fazit: Eine Sozialisierung ist dann möglich, wenn eine auch für die Gesellschaft relevante, problematische Macht von marktdominanten Unternehmen gebrochen werden soll. Das entspricht dem historischen Sinn jener Vorschrift und ist auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten nachvollziehbar, so die Autoren: In diesem Fall sei eine Sozialisierung eine geeignete Maßnahme, die auch den regelmäßigen Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitstest bestehen würde. Unabhängig davon sei eine angemessene Entschädigung erforderlich, die sich am Verkehrswert orientieren müsse.
Die Konsequenzen dieser Auffassung sind für das Berliner Vorhaben gleichwohl ernüchternd, so Prof. Dr. Jürgen Kühling: „Selbst die Anforderungen einer moderaten Interpretation des Sozialisierungsartikels kann das Berliner Vorhaben nicht erfüllen. Das Bundeskartellamt hat festgestellt, dass es keine problematische Macht dominanter Unternehmen auf dem Berliner Wohnungsmarkt gibt. Der Sozialisierungsartikel kann daher nicht aktiviert werden. Die geplanten erheblichen Abschläge vom Verkehrswert bei der Entschädigung wären verfassungsrechtlich ebenso wenig gerechtfertigt.“
Das vollständige gif Policy Paper steht unter www.gif-ev.de -> Onlineshop zum kostenfreien Download.
Über Prof. Dr. Jürgen Kühling
Jürgen Kühling ist ein deutscher Jurist. Seit April 2007 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Immobilienrecht, Infrastrukturrecht und Informationsrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg und Mitglied des IREBS-Instituts für Immobilienwirtschaft. Kühling ist seit 2016 Mitglied und seit dem 10. September 2020 Vorsitzender der Monopolkommission.
Über Moritz Litterst
Moritz Litterst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Kühling. Er hat in Regensburg Rechtswissenschaften und VWL studiert und exzellente Abschlüsse im Ersten Staatsexamen und beim Bachelor-Abschluss erzielt.
Über die gif
Die Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung e. V. wurde am 15. Oktober 1993 gegründet und hat heute rund 1.300 Mitglieder. Der gemeinnützige Verein strebt die Zusammenführung von Theorie und Praxis an und trägt zur Klärung wichtiger immobilienwirtschaftlicher Fragestellungen sowie zur Verbesserung der Markttransparenz bei.
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